Mittwoch, 3. Juni 2009

Todesfalle Unterzucker

Lange Zeit galt die „gute Einstellung des Blutzuckers“ bei Typ 2 -Diabetikern als oberstes Therapie-Prinzip. Immer mehr Studien zeigen nun, dass radikale Zuckersenkung mindestens ebenso problematisch ist wie hohe Werte.



Kann man mäßig erhöhte Blutzucker-Spiegel tolerieren, oder haben Diabetiker einen konkreten gesundheitlichen Vorteil, wenn der Glukosegehalt ihres Blutes mit Hilfe von Medikamenten künstlich abgesenkt wird? Über viele Jahre galt es als Credo der Diabetologie, dass ein Patient umso besser „eingestellt“ war, je niedriger sein HbA1c lag. Dieser Wert gibt den Anteil des „verzuckerten Blutes“ im Mittel der letzten beiden Monate an und liegt bei Gesunden zwischen 4 und 6 Prozent. Diabetiker hingegen erreichen Werte von 9 Prozent und mehr, weil der Zuckerüberschuss im Blut von den Körperzellen nicht verarbeitet werden kann. Der „honigsüße Durchfluss“ („Diabetes mellitus“) führt zu schweren Durchblutungsstörungen der Gefäße, schädigt speziell Augen, Füße und Nieren und erhöht generell das Risiko für Herzkrankheiten. In fast allen Diabetes-Leitlinien wird deshalb ein HbA1c von weniger als 6,5 als Therapieziel angestrebt.

Die von den US-Gesundheitsbehörden organisierte ACCORD-Studie („Action to Control Cardiovascular Risk in Diabetes“) trieb dieses Prinzip auf die Spitze: Mit bis zu sechs verschiedenen Arzneimitteln sollte der Blutzucker der im Schnitt 62 Jahre alten Diabetiker auf das Niveau von Gesunden – mit HbA1c unter 6 Prozent – gesenkt werden. Die andere Hälfte der insgesamt mehr als 10.000 Teilnehmer wurde einem – gemessen an den Leitlinien – beinahe fahrlässig laschen Therapieschema zugewiesen. Hier war ein HbA1c von 7 bis 7,9 Prozent erlaubt.

Bereits vor Studienbeginn wurde festgelegt, dass die Notbremse gezogen wird, wenn während der geplanten Laufzeit von mehr als fünf Jahren die Sterblichkeit in einem der beiden Studienarme einen bestimmten Grenzwert übersteigt. Und tatsächlich war es im Februar des Vorjahres – nach nur 3,5 Jahren Laufzeit – so weit. Entgegen den Erwartungen der Experten traf es aber nicht den Studienarm der schlecht eingestellten Diabetiker, der abgebrochen werden musste, sondern die Intensivtherapie. Hier waren um 22 Prozent mehr Todesfälle aufgetreten.
Im Sommer wurden die Daten im „New England Journal of Medicine“ publiziert und seither hat die Branche der Diabetologen ein kontrovers diskutiertes Dauerthema, welches auch die zur Zeit in Leipzig stattfindende Jahrestagung der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) dominiert.

Relative Einigkeit besteht noch bei der Frage, woran die ACCORD-Teilnehmer gestorben sind. Die meisten dieser Personen wurden laut Studienprotokoll „dead in bed“ gefunden. „Möglicherweise spielten Unterzuckerungen hier eine tödliche Rolle“, vermutet Thomas Haak, Präsident der DDG und Chefarzt des Diabetes-Zentrums Bad Mergentheim. Eine Ausgangsthese, die auch Michael Stumvoll, Direktor der Medizinischen Klinik und Poliklinik III am Universitätsklinikum Leipzig, teilt. „Es tut mir Leid um alle, die in der ACCORD-Studie zu Tode gekommen sind“, sagt Stumvoll, „Andererseits hat uns das den Erkenntnis-Zuwachs gebracht, dass dieses blinde Absenken des Zuckers um jeden Preis ein Wahnsinn ist.“

Eine zu Jahresbeginn publizierte kleinere Studie mit 1791 Angestellten der US-Militärs („Veterans Affairs Diabetes Trial“) bestätigte den Verdacht. Hier waren alle Teilnehmer angewiesen, ihren Blutzucker mindestens zweimal täglich zu messen, einmal pro Woche sogar um drei Uhr nachts. Abermals zeigte sich kein Nutzen der Intensivtherapie. Statistisch hoch signifikant war hingegen der Unterschied bei den Fällen von schwerer Unterzuckerung (Hypoglykämie) mit einem Anteil von 8,5 gegenüber 3,1 Prozent in der Kontrollgruppe.

Hypoglykämie entsteht, wenn der Zuckerspiegel – meist in Folge einer Überdosierung von Diabetes-Pillen oder Insulin – zu stark abfällt. Das Management dieser schweren Komplikation ist fixer Bestandteil aller Diabetes Schulungen. Risikopersonen tragen ein eigenes Notfall-Set mit, um bei Bedarf sofort Glukagon, den hormonellen Gegenspieler von Insulin, spritzen zu können. „An einem hohen HbA1c stirbt akut keiner“, sagt Stumvoll, „am Hypo hingegen schon.“
Zum Zeitpunkt des Abbruchs der ACCORD-Studie hielten die intensiv therapierten Diabetiker bei einem durchschnittlichen HbA1c von 6,4 Prozent, gegenüber einem Wert von 7,5 in der Kontrollgruppe. Der HbA1c sagt – als gemittelter Zuckerwert der letzten acht Wochen – wenig über die kurzfristigen Schwankungen im Tagesverlauf aus. Doch je niedriger der Mittelwert, desto wahrscheinlicher wird ein Ausschlag nach unten.

Als Hypoglykämie gilt jeder Zuckerspiegel unter einen Wert von 2,2 mmol/l (40mg/dl). Die Patienten werden nervös, beginnen zu zittern, bekommen Schweißausbrüche und haben extremen Heißhunger. Wird kein Zucker zugeführt, verlieren sie zunehmend die Kontrolle über ihren Körper, beginnen zu schwanken und lallen wie Betrunkene. Die schwere Hypoglykämie ist mit großem Abstand der häufigste Notfall unter den diabetischen Akutkomplikationen. Bereits der erste Unterzucker kann zum Tod führen.
Besonders gefährdet sind langjährige Diabetiker mit gestörter Nierenfunktion. Doch auch wenn es gelingt, die Unterzuckerung zu beheben, bleiben Folgeschäden. Scheinbar toleriert das Gehirn als Zucker-Großverbraucher unter den Organen einen Mangel besonders schlecht. Eine Mitte April im Journal der US-Ärztegesellschaft publizierte Langzeit-Studie ergab, dass bei Personen, die wegen einer Unterzuckerung in die Klinik gebracht werden mussten, das Risiko auf nachfolgende Demenz um 42 Prozent, bei zwei derartigen Episoden sogar um 136 Prozent, anstieg.

Bereits im Oktober letzten Jahres reagierte die DDG auf die aktuellen Ergebnisse mit einer Anpassung der Leitlinie. Während die Therapie bei jüngeren Patienten und im Frühstadium der Diabetes weitgehend gleich bleibt, sollen ältere Diabetiker mit Begleitkrankheiten und schlechter Basis-Einstellung fortan nicht mehr drastisch unter einen HbA1c-Wert von 6,5 gesenkt werden. „Hier nehmen wir auch einen Wert unter 7 in Kauf“, erklärt Haak. Manche Diabetologen sehen auch bei noch höherem Blutzucker keinen akuten Handlungsbedarf. „Wenn ein 70jähriger Patient, der seit 15 Jahren Diabetes hat, mit einem Wert von 7,2 ein gutes Leben führt, dann lass ich den in Ruhe“, sagt Michael Stummvoll. „Ab 7,5 werde ich aber etwas unruhig.“
Der 80-jährige Nestor der deutschen Diabetologie, Hellmut Mehnert, schlug in einem Kommentar in der „Ärzte Zeitung“ kürzlich gar einen HbA1c-Wert von 8,0 vor, „um einen gewissen Schutz gegen die offenbar so verderblichen Hypoglykämien zu bieten.“ Und Thomas Pieber, Präsident der kommenden Jahrestagung der Europäischen Diabetesgesellschaft in Graz, will diesen Grenzwert für langjährige Diabetiker, die trotz schlechtem Zuckerwert relativ beschwerdefrei leben, sogar in den Leitlinien festhalten. „Dort muss stehen, dass es keine wissenschaftliche Basis dafür gibt, dass die medikamentöse Absenkung des Zuckerwertes unter einen HbA1c von 8 den Patienten nützt.“
DDG-Präsident Haak beobachtet die Vorstöße der Kollegen, aus den Ergebnissen der USA nun rundum eigene Therapieschemata abzuleiten, mit Skepsis. „Zuckerwert-Einstellungen über 7 müssten in ihrer Sicherheit erst mit Studien belegt werden.“ Die deutschen Leitlinien gehörten in ihrer Ausgewogenheit hingegen „mit zu den besten der Welt.“

Peter Sawicki, Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), spielt diesen Ball gleich wieder zurück und fordert eine Umkehr der Beweislast: „Seit nunmehr 40 Jahren zeigt Studie um Studie keinen positiven Effekt der aggressiven medikamentösen Diabetes-Therapie.“ Irgendwann müsse man das doch zur Kenntnis nehmen, schimpft Sawicki. „Aber die Diabetologen verhalten sich nach dem Prinzip: Ich lass mir doch nicht durch irgendwelche Studien mein schönes Therapiekonzept versauen.“
Die meisten Fachgesellschaften im Bereich der Diabetes seien abhängig von der pharmazeutischen Industrie und diese profitiere eben sehr stark von den niedrigen Zielwerten, kritisiert Sawicki, weil mehr Medikamente in höheren Dosen eingesetzt würden.
DDG-Chef Haak begegnete derartigen Vorwürfen mit der Festlegung eines Verhaltenscodex. Dieser wird bei der Jahrestagung in die Statuten der Gesellschaft aufgenommen, „weil wir es leid sind, immer in die Schmuddelecke gedrängt zu werden, dass wir alle von der Pharmaindustrie bestochen sind.“ Laut Haak sichert der Codex nun, „dass Gelder, die von der Pharmaindustrie kommen - leistungsbezogen und transparent gezahlt werden und damit etwas Vernünftiges gemacht wird.“
Peter Sawicki würdigt das als einen prinzipiell positiven Schritt in die richtige Richtung. „Ich fürchte aber, es wird in der Praxis so dargelegt werden, dass man Dinge nach wie vor verschleiert.“

Das IQWiG wiederum gilt in der Branche als Kettenhund der Politik, der unter dem Vorwand der Evidenz basierten Medizin die modernsten, zugleich aber auch teuersten neuen Therapiekonzepte zunichte macht. Tatsächlich erschienen in diesem Jahr bereits zwei IQWiG-Gutachten, in denen hoffnungsvolle neue Substanzklassen, die das Risiko einer Unterzuckerung reduzieren, rundweg abqualifiziert wurden.
Als erstes traf es die Glitazone, so genannte Insulin Sensitizer, welche die Sensibilität der Körperzellen für natürliches und gespritztes Insulin erhöhen. In der Monotherapie dürfen sie derzeit nur eingesetzt werden, wenn die Patienten Metformin oder Sulfonylharnstoff, die beiden Klassiker der Diabetestherapie, nicht vertragen. Im IQWiG Gutachten, das im Auftrag des Gemeinsamen Bundesausschusses den Zusatznutzen gegenüber den Mitteln der ersten Wahl untersuchte, heißt es nun, dass Glitazone sowohl Vorteile (geringes Risiko einer Unterzuckerung) als auch Nachteile (Gewichtszunahme, erhöhtes Herzrisiko) haben. Vor einem allzu breiten Einsatz sollten noch die Ergebnisse von ausreichend großen und methodisch guten Langzeit-Studien abgewartet werden, die in den nächsten Jahren erscheinen.
Im März setzte das IQWiG mit einem skeptischen Abschlussbericht zum Nutzen der langwirksamen Insulinanaloga mit den derzeit zugelassenen Wirkstoffen Glargin und Detemir nach. Bei beiden Substanzen handelt es sich um gentechnisch hergestellte Varianten des Humaninsulin, die so verändert wurden, dass sie deutlich länger wirken und von Diabetikern nur ein oder zwei Mal täglich gespritzt werden müssen. Das IQWiG kam nach Prüfung der Studien zum Schluss, dass es für einen Vorteil der langwirksamen Insulinanaloga bislang keine sicheren Belege gäbe, auch wenn das Kölner Institut „Hinweise auf seltenere Unterzuckerungen“ zugestand.
Für Juni wird nun die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschusses erwartet, ob die derzeit von rund einer halben Million Diabetikern verwendeten Insulinanaloga weiterhin von den Kassen bezahlt werden. Falls nicht, fürchten Diabetologen, dass sich die Unterzuckerungs-Problematik bei einer Rückkehr zu den alten Mitteln weiter verschärfen könnte. Als besonders problematisch gelten die Sulfonylharnstoffe. „Das ist eine recht unintelligente Substanz, die auch dann noch die Insulinproduktion ankurbelt, wenn der Zucker längst im Normalbereich ist“, sagt Stumvoll.

Seit 1995 sind sechs neue Wirkstoff-Klassen in den Leistungskatalog der Kassen aufgenommen worden. Neuere Mittel, wie etwa der synthetisch aus dem Speichel einer Echse hergestellte Wirkstoff Exenatide sind vergleichsweise wesentlich intelligenter und bremsen die Unterzuckerung rechtzeitig ab, ebenso ein kurz vor der Zulassung stehender Wirkstoff aus der Haut einer Kröte. Diese High-Tech Präparate treiben die Kostenkurve aber steil nach oben. Allein die Behandlung mit Exenatide würde pro Patient und Jahr mehr als 2000 Euro kosten, sechsmal so viel wie eine herkömmliche Insulin-Therapie.

Diabetes ist auch so längst zu einem der größten Ausgabenposten im Gesundheitssystem geworden. Mehr als zehn Millionen Deutsche sind offiziell betroffen. Nun droht Diabetes durch die demographische Entwicklung und die teuren neuen Medikamente zu einem gesamtwirtschaftlichen Katastrophenfall zu werden. „Inklusive Dunkelziffer und Vorstadien steuert ein Drittel der Bevölkerung unaufhaltsam auf Diabetes zu“, warnt Rüdiger Landgraf, der Vorsitzende der Deutschen Diabetiker Stiftung.
Derzeit verursacht die Behandlung der Diabetiker einen Aufwand von rund 30 Milliarden Euro. „Bis 2025 müssen wir mit einer Kostenexplosion auf bis zu 240 Milliarden Euro rechnen“, sagt Landgraf. „Das entspricht in etwa dem, was wir heute für das gesamte Gesundheitssystem in Deutschland ausgeben.“

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