Dienstag, 25. Mai 2010

Diabetes Gesellschaft droht mit rechtlichen Schritten

Nach scheinbar wirklich reiflicher Überlegung langte kürzlich in der Redaktion des Nachrichtenmagazins Profil eine vier Seiten lange Stellungnahme der Österreichischen Diabetes Gesellschaft (ÖDG) zu meiner Coverstory vom April "Wenn Ärzte krank machen - Die absurden Folgen des Gesundheitswahns" ein.
Adressiert ist das Schreiben an Christian Rainer, Chefredakteur des Profil, unterzeichnet vom Präsidenten der ÖDG, Raimund Weitgasser, sowie deren Erstem Sekretär Bernhard Paulweber.

Der Vorstand der ÖDG übt generelle Kritik an meinem Artikel, der zum Anlass der Veröffentlichung meines aktuellen Buches "Gesund bis der Arzt kommt - Ein Handbuch zur Selbstverteidigung" erschienen ist. (In einem Info-Kasten am Ende des Artikels wird auch konkret auf das Buch hingewiesen.) Dieser Zusammenhang wird von der ÖDG in ihrem Schreiben schonungslos aufgedeckt:
Es ist dem ÖDG Vorstand auch nicht entgangen, dass der Artikel von Herrn Ehgartner als versteckte Werbung für dessen neu erschienenes Buch dienen könnte. Herr Ehgartner, der marktwirtschaftliches Denken bei der Pharmaindustrie heftig kritisiert, bedient sich somit auch eines marktwirtschaftlichen Instrumentes und es wird ihn vermutlich auch in keiner Weise stören, wenn dadurch die Verkaufszahlen seines Buches steigen werden.

Neben derart subtilen Argumenten geht der ÖDG-Vorstand in einigen Punkten näher auf meinen Artikel ein.
Im Absatz "Überschuss" stellt Herr Ehgartner fest "ein erhöhter Zuckerwert zeigt jedenfalls an, dass mehr Zucker über die Nahrung zugeführt wird, als der Organismus benötigt. Wenn dieser über Medikamente oder von außen zugeführtes Insulin 'verwertet' wird, so geschieht dies gegen die ursprüngliche Absicht der Stoffwechselregulatoren". Diese Aussage ist wissenschaftlich falsch. … Eine Erhöhung des Blutzuckers ist Folge einer Unfähigkeit der Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse genügend Insulin bereitzustellen, um die bei Typ 2 Diabetikern meist bestehende Insulinresistenz zu durchbrechen. Eine große Rolle in der Entstehung eines erhöhten Blutzuckers spielt eine fehlende Hemmung einer gesteigerten Blutzuckerausschüttung durch die Leber, die auch im Nüchternzustand erfolgen kann.

Ein erhöhter Blutzuckerwert zeigt also nicht an, dass mehr Zucker zugeführt wird als der Organismus benötigt?
Vielmehr entsteht Diabetes durch eine enthemmte Leber, die den Organismus willkürlich mit Blutzucker flutet?
Und hier liegt auch die tiefere Ursache für die Insulinresistenz?

Die Hauptschuld am Diabetes trägt also die Leber. Wie aber kann sich der betroffene Mensch gegen die Entgleisung seines Organs wehren?
Hier gibt es Chancen, gesteht die ÖDG zu:
Im Frühstadium der Erkrankung ist es oft noch möglich, durch entsprechende Lebensstilmaßnahmen (…) eine Normalisierung oder zumindest eine starke Verbesserung der Stoffwechselkontrolle zu erreichen. 

Die Skepsis gegen solche Lebensstil-Modifikation ist den ÖDG-Experten jedoch durchaus anzumerken:
Wenn sie langfristig Erfolg haben soll, ist die Lebensstiltherapie aber sehr aufwendig und kostenintensiv und wird derzeit auch noch nicht von den Kostenträgern finanziell unterstützt."

Ganz im Gegensatz zur medikamentösen Therapie. Deshalb, schreiben die Diabetes Experten…
…ist es nötig, zunächst orale Medikamente einzusetzen, um die Stoffwechselkontrolle zu verbessern. Nach langjährigem Verlauf der Erkrankung (meist nach deutlich mehr als 10 Jahren) kommt es leider oft trotz aller therapeutischen Bemühungen zu einem völligen Versagen der Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse, sodass die Gabe von Insulin oft nötig wird, um akute Stoffwechselentgleisungen zu verhindern.

Als nächstes nehmen die Spitzen der Diabeteslehre den in meinem Artikel zitierten Präsident des Österreichischen Hausärzteverbandes, Christian Euler ins Visier. Euler hatte gesagt: "Stellen Sie sich einen Gesundheitspolitiker vor, der sagt: 'Für einen Typ-2-Diabetiker brauchen wir eigentlich keine Medikamente, sondern vor allem Disziplin'. Es gibt gute Argumente für so eine Sichtweise. Aber den Mut, das öffentlich zu sagen, bringt niemand auf."

Gut findet die ÖDG dieses Argument ganz und gar nicht:
Diese Aussage stellt nicht nur eine Beleidigung vieler Patienten mit Typ-2-Diabetes dar, die sich redlich bemühen, eine nachhaltige Lebensstiländerung zu vollziehen, sondern sie ist auch … falsch. Sicher ist richtig, dass es eine weltweite Zunahme des Typ 2 Diabetes gibt, die Folge eines starken Ansteigens der Prävalenz von Übergewicht und Adipositas ist, die sich aus ungünstigen Lebensgewohnheiten ergibt. … Aber diese Tatsache hilft jenen Patienten nicht, die von der Erkrankung bereits heute betroffen sind.

Die Aussage ist also falsch, bzw. richtig, bzw. hilft das den Patienten nicht.

Nun wendet sich die Argumentation der ÖDG wieder gegen den Artikelschreiber selbst:
Weiters stellt Herr Ehgartner fest: "Tatsächlich erwies sich die gebetsmühlenartig wiederholte Botschaft, dass es für die Gesundheit der Diabetiker am wichtigsten sei, wenn sie 'gut eingestellt' werden, immer deutlicher als Werbebotschaft der Industrie. Eine ganze Reihe von Studien zeigte nämlich, dass bei besonders gut eingestellten Diabetikern mit zu niedrigen Zielwerten das Risiko der Unterzuckerung ansteigt, was deren Sterbe- und Demenzrisiko dramatisch erhöht." … Diese Aussage stellt eine starke Verzerrung und Verkürzung der Ergebnisse der angesprochenen klinischen Studien dar.

Besonders sauer stößt es den ÖDG-Spitzen auf, dass sich mit dem Thomas Pieber von der Meduni Graz nun im Artikel auch noch ein ausgewiesener Diabetes Fachmann mit folgender Bemerkung einmischt: "Die Ärzte haben als Advokaten ihrer Patienten versagt. Sie hätten warnen und hinterfragen müssen - und nicht alles willfährig übernehmen, was ihnen von der Industrie vorgelegt wird."

Dies wird folgendermaßen "widerlegt":
Es ist wahr, dass in 3 rezenten Studien bei Patienten mit langjähriger Diabetesdauer und bereits vorhandenen Folgeschäden, durch eine stärkere Blutzuckersenkung keine Verbesserung des makrovaskulären Risikos (=Risikos für Herzinfarkt und Schlaganfall) erzielt werden konnte. In einer der Studien (ACCORD) wiesen Patienten mit stärkerer Blutzuckersenkung sogar eine etwas erhöhte kardiovaskuläre Sterblichkeit auf. In allen drei Studien zeigte sich allerdings, dass Patienten mit kurzer Diabetesdauer und noch nicht vorhandenen Komplikationen sehr wohl von der besseren Blutzuckereinstellung profitierten.

Jene Patienten, die noch keine Komplikationen hatten, haben also profitiert. Indem sie trotz der "besseren Blutzuckereinstellung" auch keine Komplikationen entwickelten? Das wäre ein recht bescheidener Erfolgsnachweis.

Egal. Jedenfalls sei es nicht hinnehmbar, wenn sich plötzlich Journalisten in die wissenschaftlichen Auslegungen der Diabetes-Gesellschaften einmischen. Wo kämen wir denn da hin?
Die von Herrn Ehgartner kritisierte kontinuierliche Absenkung der Therapiezielwerte in der Behandlung dieser Risikofaktoren basiert auf einer großen Zahl von gut angelegten und durchgeführten randomisierten Studien, die zu diesen Fragestellungen in den vergangenen Jahrzehnten durchgeführt worden sind. Die von Herrn Ehgartner vorgeschlagene Ignorierung dieser wertvollen Daten, würde einen medizinischen Rückschritt ungeahnten Ausmaßes bedeuten, der die Medizin auf jenen Wissenstand zurückwerfen würde, den wir etwa in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hatten.

Aber aber, meine Herren. Es ging mir doch gar nicht darum, diese Studien zu ignorieren und uns damit zurück ins finstere 20. Jahrhundert zu katapultieren. Es ging mir darum, jene Seite der Diabetes-Lehre zu Wort kommen zu lassen, die fordert, endlich die Konsequenzen aus den wissenschaftlichen Arbeiten der letzten Jahrzehnte zu ziehen. Auf internationaler Ebene geht die wissenschaftliche Diskussion immer mehr in Richtung einer Umkehr des Dogmas einer "besonders guten Einstellung" der Zielwerte nach dem Vorbild von Gesunden.
Eben deshalb, weil sich gezeigt hat, dass mit zu niedrig angesetzten Zielwerten das Risiko einer Hypoglykämie (Unterzuckerung) stark ansteigt, was vermehrte Todesfälle und ein höheres Demenzrisiko zur Folge hat.

Im Schlussabsatz ihres Schreibens sorgen sich die Vorstände der Diabetes-Gesellschaft sehr, dass solche Artikel bei den Lesern "zu einer massiver Verunsicherung, wenn nicht sogar zu Therapieänderungen (bis hin zum Absetzen von notwendigen Medikamenten) führen".
Und hier ist nunmehr endgültig die Geduld der ÖDG am Ende:
Sollten wir in konkreten Fällen davon erfahren, dass sich derartige ungünstige Konsequenzen für unsere Patienten aus diesem Artikel ergeben haben, können wir nicht ausschließen, dass entsprechende rechtliche Schritte gegen den Autor unternommen werden müssten.


Falls ein österreichischer Diabetiker ins diabetische Koma fällt und gleichzeitig eine Ausgabe des Magazins Profil in dessen Wohnung gefunden wird, könnte es also juristisch brisant für mich werden.
Bleibt die Frage, ob ich damit im Gegenzug auch moralisch verpflichtet wäre, Anzeige bei der Staatsanwaltschaft gegen die Österreichische Diabetes Gesellschaft zu erstatten, falls jemand in Folge eines zu optimistisch dosierten Diabetes-Medikamentes in den Unterzucker abgleitet.

Es stehen jedenfalls recht unruhige Zeiten bevor.

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